„Leonhard wurde schläfrig. Sie schob ihn ins Badezimmer und ließ die große Wanne ein. Sie zog ihn aus, er hatte kaum noch die Kraft, sich an den neuen Griffen in die Wanne zu wuchten. Dann zog auch sie sich aus und stieg zu ihm in das warme Wasser. Er saß vor ihr, sein Kopf lehnte an ihren Brüsten, er atmete ruhig und gleichmäßig. Als Kinder hatten sie of so zusammen in der Badewanne gesessen, weil Etta kein Wasser verschwenden wollte. Theresa hielt ihn fest umschlungen, sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. Als er eingeschlafen war, küsste sie seinen Nacken und ließ ihn unter Wasser gleiten. Leonhard atmete tief ein.“
(Ferdinand von Schirach: Verbrechen)

Hallo, meine Lieben!


Ich melde mich mit einer Buchempfehlung zurück. Zu meinen absoluten Lieblingen gehören die Kurzgeschichten von Ferdinand von Schirach. Wenn ihr den schnörkellosen Schreibstil präferiert, dann werdet ihr diese Bücher lieben! 

Elf mehr oder weniger kurze Erzählungen über das Schicksal und das Leben seiner Mandanten veröffentlicht Ferdinand von Schirach in seinem 2010 erschienenem Buch „Verbrechen“. Schonungslos nimmt von Schirach den Leser mit in die Welt des Verbrechens, die mit jeder einzelnen Geschichte ein Stück wirklicher, präsenter, substantieller, ja in greifbare Nähe gerückt wird. Das liegt nicht zuletzt daran, dass seine Protagonisten, anders als in der sonstigen Kriminalliteratur, als ganz normale Menschen daherkommen. Da gibt es den erfolgreichen, eigentlich ruhigen und bescheidenen Arzt, der jahrelang von seiner Ehefrau schikaniert wird, bis er die Kontrolle verliert. Einen aus Äthiopien stammenden Mann, der eigentlich nur nach Hause will, aber nicht weiß, wie er dieses Ziel erreichen kann. Oder die Schwester, die das Leiden und die Krankheit ihres Bruders nicht mehr ertragen kann.

Von Schirach schafft es mit jeder einzelnen Geschichte den Blick des Lesers über den Tellerand der eigentlichen Tat hinauszulenken und ihn mit der Frage zu konfrontieren, ob die Tat allein ausreicht, um aus einem Menschen einen Verbrecher zu machen oder ob nicht noch etwas anderes hinzukommen muss. Schirach selbst und auch unser Strafrecht beantworten diese Frage sehr deutlich: „Wir strafen nach der Schuld eines Menschen, wir fragen, in welchem Maß wir ihn für seine Handlungen verantwortlich machen können“.
Das besondere an den Geschichten und ihren Figuren ist aber, dass sich der Leser selbst unvermeidlich die Frage stellt, ob man die Schwester, den Arzt oder die vielen anderen Protagonisten wirklich für ihre Taten verantwortlich machen kann. Damit schafft Schirach es, die in Romanen herkömmliche Opfer- bzw. Ermittlerperspektive auszublenden und den Leser mitzunehmen zu Fragen des Rechtsstaates, der Kriminologie, der persönlichen Vorwerfbarkeit, des Humanismus‘. Schirach zeigt den Menschen in all seinen Facetten und die Frage nach der Menschlichkeit in der Unmenschlichkeit ist sein Anliegen.
Auch seine weiteren Bücher ‚Schuld‘ und ‚der Fall Collini‘ sind wirklich absolut lesenswert. Aber auch diese Bücher werde ich noch in weiteren Buchempfehlung vorstellen. 
Kennt ihr die Kurzgeschichten von F.v.Schirach? Und wenn ja, wie haben sie euch gefallen? 
Liebst
Janina