Foto von Leni Moretti

 

ICH GAB EINFACH AUF UND VERSTUMMTE
– alles in mir tobte,
aber meine Fassade war eisern und blieb still!

„Und, wie fühlst du dich, Janina?“, fragt mich meine liebe Hebamme und lächelt mich an. Ja, wie fühle ich mich – frage ich mich. Ohne groß darüber nachzudenken, antworte ich auch schon. „Ich fühle mich irgendwie nicht wirklich schwanger. Dieses Mal ist alles so anders als sonst. Normalerweise bin ich schwanger und merke es fast sofort. Spüre die Veränderungen. Spannende Brüste, ein Ziehen im Bauch – sowas eben. Sonst fahre ich immer direkt das volle Programm. Aber dieses Mal? Nö, nichts davon…“. Jedes Kind, jede Schwangerschaft ist doch so anders. Verblüffend. Bisher hab ich, vergleichsweise, den bisher kleinsten Bauch für die Schwangerschaftswoche. Das merke ich natürlich. Ich merke auch, dass auch sonst nicht viel anders ist. Nichts spannt, mir ist nicht übel, ich bin nicht groß emotional. Lediglich müde bin ich. Und das war es auch schon. Ist doch eigentlich auch gut so, denke ich. Und weiß eigentlich, dass da noch was ist. Dass da was lauert. Im Dunklen. Tief in mir. Und eigentlich weiß ich es doch nicht. Weil ich eine riesige Schutzmauer aufgebaut habe. Unüberwindbar. Für mich. Weil ich Angst habe vor dem, was dahinter lauert. Und weil ich Angst habe, dass diese Schutzmauer ins Wanken gerät.

Meine Hebamme nimmt sich sehr viel Zeit für unser Gespräch. Generell nimmt sie sich immer enorm viel Zeit, ist aufmerksam, kompetent, eine wirklich tolle Hebamme (für die ich unfassbar dankbar bin). Aber sie hat auch feine Antennen.
Wir sprechen also über die letzten und damit ersten Wochen der Schwangerschaft, über die letzte Geburt, über das was nach der Geburt geschah und plötzlich spüre ich den Knoten in meinem Hals, der mir fast die Luft abschnürt. Vorbei. Heiße Tränen füllen meine Augen und ich versuche stärker zu sein, eisern, versuche, sie zu verdrängen – aber es gelingt mir nicht. Ich spüre die erste Träne, die sich den Weg frei gekämpft hat, auf meiner Wange. Ich möchte nicht schluchzen. Wenigstens das nicht. Keine Schwäche zeigen. Ich denke an diese Mauer, die mich schützen soll. Die zweit Träne, die dritte, die vierte. Heiß und schwer und voller Kummer und Leid.

Und da ist es, das erste große und laute Schluchzen und es ist vorbei, ich verliere die Haltung und sacke in mich zusammen. Ich fühle mich auf einmal schwach. Fühle mich klein. Fühle mich hilflos und als hätte ich versagt, verloren, als wäre da gerade was zerbrochen.

Meine Hebamme spricht mit ruhiger Stimme mit mir. Sie steht auf, stellt sich hinter mich, legt mir ihre Hände auf die Schultern und das gibt mir in diesem Moment Kraft. Denn auch Nähe ist seit der letzten Geburt für mich eher etwas, was mir Angst macht. Was mir schwer fällt, was ich nur mit Überwindung zulassen kann. Aber in diesem Moment fühlen sich diese Hände auf meinen Schultern an wie die Erlösung. Als würden sie mich in dieser Sekunde, in diesem Moment, von so einer schweren Last befreien. Ich weine noch immer. Und die Tränen sind noch immer warm und schwer. Als hätten sie viel zu lange auf diesen Moment warten müssen. Und so sitze ich da und lasse zu. Lasse raus. Versuche nicht mehr, mit angestrengtem geraden Rücken und aufrechtem Haupt dazusitzen. Die Fassade ist gefallen.

Nach einigen Minuten spüre ich, wie die Tränen Platz gemacht haben für Luft. Die Anspannung, die sich da über die letzten knapp 18 Monate angesammelt hat, weicht. Die dicke, schwere Schutzmauer ist zum Teil eingerissen. Mein Schutzschild ist nicht mehr heil. Und ich weiß in dem Moment noch nicht, ob das gut ist – oder schlecht. Meine Hebamme setzt sich wieder neben mich und schaut mich an. Mit ruhigen Worten sagt sie:
„Siehst du, warum sich das dieses Mal so anders anfühlt? Warum du dich nicht schwanger fühlst?“

Ja, ich sehe es. Ich begreife es auch. Schutz. Selbstschutz. Angst zuzulassen, weil da noch so viel Angst ist, die so tief sitzt und nie ganz und vollständig aufgearbeitet wurde. Diese blanke Angst, die ich damals verspürt habe, ist für mich noch heute kaum auszuhalten. Die Angst um mein Kind. Die Sorge, es zu verlieren. Diese erste Woche mit unserem Sohn hat tiefe Wunden hinterlassen. Körperliche, vor allem aber ganz Seelische.
Ich kann mich erinnern, wie ich wie ein Häufchen Elend, wund, voller Schmerzen, voller Angst, kaum in der Lage zu stehen, neben dem Bett meines Babys saß. Immer. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Zusammengefallen. Weinend. Meine Augen rot und müde. Erschöpft. Hatte ich doch eigentlich selbst absolute Bettruhe, aber die Angst trieb mich an. Ich kämpfte dafür, ihn stillen zu dürfen. Wir kämpften (vergeblich) dafür, dass endlich jemand mit uns sprach und uns sagte, was hier gerade passierte. Ich funktionierte wie ein Roboter – und fühlte mich auch wie ein Roboter. Ich wusste, ich muss wie eine Maschine weiter machen. Wie ein Motor. Zuverlässig im gleichen Takt. Aber ich hab auch nicht vergessen, wie hilflos ich mich fühlte. Dass ich am liebsten laut geschrien hätte vor Angst und Hilflosigkeit. Stattdessen war ich stumm. Und weinte still. Es liefen einfach nur die Tränen. Stumme Zeugen meiner Gefühle.

Im ersten halben Jahr habe ich viel über das, was passiert ist, gesprochen. Mit Henry. Zumindest über das, was wir an Informationen hatten. Ich versuchte, es zu begreifen und wollte es verarbeiten. Aber ich konnte niemals nie nur daran denken, dann kamen schon die Tränen und die Hilflosigkeit und das Gefühl nicht gut genug zu sein. Also begann ich, (m)eine Maske aufzulegen. Mich zu schützen. Arbeitete an dieser Mauer in mir. Stein für Stein brauchte es, um sie dick und sicher aufzurichten. Ich lächelte, ich versuchte, den Kopf aufzurichten, gerade zu sitzen, stark zu wirken. ICH. BIN. STARK!

Ich gab einfach auf.
Für mich, so schien es, war das der leichtere Weg.
Und irgendwann, irgendwann ist das Gefühl von dieser Angst so tief vergraben,
so weit weg, dass es vergessen ist.

Das erste Jahr war schwer. Es war auch schwer für uns als Paar. Weil ich irgendwann nicht mehr redete. Ich verstummte. Weil ich die ersten zehn Monate nicht einmal mehr eine Berührung zulassen konnte. Keine einzige. Eine Hand auf meiner Schulter von dem Mann, den ich unfassbar liebe, machte mir Angst und brachte Beklemmung. Eine Umarmung war für mich nur schwer zu ertragen. Ein zarte Berührung im Vorbeigehen, etwas, was ich sonst immer so liebte und schätzte, trieb mir den Angstschweiß hoch. Oft biss ich die Zähne zusammen. Aber viel viel öfter reagierte ich mit Ablehnung. Geh weg. Fass mich nicht an. Mich wegdrehen. Wegsetzen. Komm mir bloß nicht zu nah. Ich hörte auf zu sprechen. Dabei war es immer genau das, was uns so zusammenhielt. Das miteinander sprechen. Ich konnte es nicht mehr und doch fehlte mir im gleichen Moment all das so unfassbar sehr. Mir fehlte die Nähe. Mir fehlten seine Arme, die sonst immer mein Fels waren. Mir fehlte sein vertrauter Duft. Mir fehlte all das so sehr, dass es weh tat.

Als die Hebamme mich an diesem Tag an meiner Haustür kurz umarmt, ihr warmes Lächeln trägt und sich verabschiedet, schließe ich die Tür und setze mich auf die Couch. Es ist still im Haus. Niemand sonst ist da. Nicht Henry, nicht die Kinder. Ich sitze da und bin plötzlich zutiefst erschöpft und müde. Ich spüre meinen Körper plötzlich wieder. Ich weine nochmal. Und obwohl ich weine, obwohl ich so komplett übermannt bin von meinen Gefühlen und all dem, was gerade in mir tobt, spüre ich auch Erleichterung. Da ist ein Funken Licht. Die Mauer ist eingerissen und ich nehme mir an diesem Tag, in dieser Minute vor, all das Geröll wegzuräumen. Stück für Stück, Stein für Stein. Nach vielen Minuten stehe ich auf und hole mein Telefon. Ich rufe Henry an, ich höre seine Stimme und mir laufen die Tränen. Ich kann nicht sprechen, ich sage nichts, ich weine einfach still ins Telefon. Und er, er hört still zu. Gefühlt eine halbe Ewigkeit. An diesem Tag kommt er früher Heim und ich spreche, ich spreche und spreche und spreche und weine und spreche. Ich bin wieder da. Ich bin ein Stückchen wieder die Alte, wieder ein Stück näher an der Janina, die ich eigentlich bin.

 

 

 

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