Ein Brief der Liebe, aber nicht nur der Liebe

 

Es ist Mittwoch, Zeit für einen neuen Gastbeitrag. Die liebe Azra, bei Instagram findet ihr sie HIER, hat heute einen Brief an ihre Tochter für uns. Ein Brief der Liebe, der Mutterliebe – und doch ist er so ganz anders, denn er lässt tiefer blicken. Ein ehrlicher Einblick in das erste Lebensjahr. Er zeigt auf, dass nicht immer alles reibungslos verläuft und dass es manchmal auch einfach besser ist, loszulassen, auf sein Bauchgefühl zu hören und es so zu machen, wie es für einen selbst und das eigene Kind am Besten ist. Aber lest selbst..

Ein Brief der Liebe, der Mutterliebe und ein Brief gefüllt mit Liebe, aber nicht nur mit Liebe. 

Sicherlich habt Ihr schon entdeckt, dass es sich hierbei um keinen Vierzeiler handelt. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich selbst ein Mensch bin der eine interessante und packende Überschrift braucht, ansonsten bin ich nach wenigen Zeilen weg. 

Aber an dieser Stelle bitte ich euch zu bleiben, denn es handelt sich hierbei um keinen üblichen Liebesbrief einer Mutter, der kurz vor dem ersten Geburtstag Ihres ersten Kindes verfasst wird. Es geht um so vieles mehr. 

 

Du, mein kleines Mädchen, meine Tochter, mein sehnlichster Wunsch. 

Heute ist es ein Jahr her, ein Jahr, dass du mein Leben und das deines Papas auf den Kopf gestellt hast. Gott, wo fange ich nur an. Millionen Gedanken schwirren mir durch den Kopf, allein wenn ich nur an dich denke. 

Mein Kind, ein Jahr voller Glückseligkeit, dass man fast schon Bauchschmerzen davon bekommt aber auch ein Jahr voller Tränen. Ich bin ehrlich, an manchen Tagen habe ich mir das Mamadasein deutlich einfacher vorgestellt, denn wir hatten keinesfalls einen guten Start. 

Ich fang von vorne an. 

Du wolltest meine Brust nicht. Und ich konnte damit den Hunger meines Kindes nicht stillen. Ich fühlte mich elendig. Während die anderen zwei Mütter im Zimmer Ihre Kinder stillten, versuchte ich dein bitterliches Weinen durch Schaukeln zu stillen und hoffte jedes Mal, dass endlich eine Schwester durch die Tür kommt und damit auch meine Erlösung. 

Du kamst somit mit jedem Hunger ins Schwesternzimmer. Was Sie dir gaben weiß ich nicht. Warum ich nie mit bin kann ich ebenso nicht beantworten. Das Verlangen nach Ruhe, nach ein paar Minuten Auszeit war einfach zu groß. Zurück kamst du immer mucksmäuschenstill, meist schlafend. 

Gott, wie sehr habe ich mir damals gewünscht, dass du einmal, nur ein einziges Mal in meinen Armen oder auf meiner Brust einschläfst. Die ersten Nächte im Krankenhaus waren ebenso eine harte Probe. Während die anderen Mütter mit ihren Babys schliefen, hast du fast nur geweint. Deshalb bin ich fast drei Nächte und nahezu durchgehend die Krankenhausflure hoch und runter spaziert, mit dir im Arm, wippend und summend. Ich wollte die anderen Mütter und Ihre Babys nicht aufwecken. 

Nach drei Tagen und drei Nächten kamen wir nach Hause. Mein Frust nicht stillen zu können und damit deinen Hunger nicht stillen zu können stieg. Meine Hebamme machte es mir ebenso nicht leicht, denn die hundert Stillpositionen, die Sie mir mit dir zu zeigen versuchte halfen nicht. Keine Position und kein Tee konnten mir bei der Tatsache helfen, dass ich und du, für dieses innige Verhältnis wohl einfach nicht geschaffen waren. 

Wie sehr habe ich damals jemanden gebraucht der mir die Augen öffnet. Der mir die Augen öffnet, dass ich mit diesem Druck, den ich auf mich und auf mein Kind ausübe, nicht weiterkomme. Jemanden, der mir eine gottverdammte Packung Milchpulver hinstellt und mir sagt, füttere dein Kind. Heute denke ich anders. Natürlich und unbestritten: Stillen ist praktisch, gesund und kostenlos. Das Stillen ist sicherlich eine intensive und schöne Zeit für Mutter und Kind. Aber das war es für mich nie. Eine Brustentzündung jagte die nächste und gesundheitlich ging es mir immer schlechter und schlechter. Keinesfalls konnte ich also diese Zeit genießen. 

Und dann kam dieser Zeitpunkt. Der Zeitpunkt, an dem ich dir das erste Mal eine Flasche gab. Eine Flasche Pre-Milchpulver. Ich fühlte mich glücklich. So unendlich glücklich. Ich konnte das erste Mal den Hunger meines Kindes voll und ganz stillen. Eine Erleichterung, ich fühlte mich heldenhaft und so voller neuer Kraft.

Du bist in meinen Armen eingeschlafen. Das erste Mal, ohne langen Kampf. Es war unglaublich. Wir hatten eine wunderbare Zeit, du ich und deine Flasche. Und diese Zeit war für mich eine mindestens genauso intensive Zeit. Heute weiß ich gar nicht, ob ich das Stillen beim zweiten Kind überhaupt probieren möchte oder ob ich direkt und endlich die Zeit von Anfang an genießen möchte. 

Und darum mein Appell an alle Mütter, die die es werden wollen und die, die es bereits sind. Oder vielleicht auch die, die sich in meinen Zeilen wiederfinden. Ihr seid nicht allein. 

„Nicht stillen“, ich weiß, Mütter, die diese Entscheidung treffen müssen einiges aushalten. Dem Säugling die Brust zu geben ist in unserer Gesellschaft Symbol für die gute, fürsorgende und liebende Mutter. Wer sich dem entzieht, womöglich sogar freiwillig, steht unter Generalverdacht: Nicht genug zu geben, nicht genug zu lieben, nicht genug zu tun für sein Kind. Bullshit.

Frauen die Flasche füttern werden gerügt. Die einfache Frage, was Säuglinge in den ersten Monaten essen sollten, ist zu einer Art Religionsersatz geworden.

Dabei gibt es ja durchaus auch Gründe Fläschchen zu geben, aber vor allem – weil es eben einfach nicht so funktioniert, wie es funktionieren soll.

Und damit ein Hoch an die großartige „Milchpulverherstellungsindustrie“.

Nachdem ich also meinen Weg gefunden hatte, konnte ich endlich genießen. Es fiel ein großer Fels von meinem Herzen. Ich sah dich an und war keinem Druck mehr ausgesetzt. Und je mehr ich dich von meiner Brust entfernte, desto glücklicher schienst du. Völlig banal für die ein oder andere stillende Mutter. Doch für mich war es einfach so. Eine simple Sache. Eine simple Flasche hat mich aus einem großen Loch geholt.

Doch wisst Ihr, was das wirklich banale an dieser ganzen Geschichte ist? 

Mit etwa 16 Jahren ging ich zum Frauenarzt. Einige Wochen zuvor bemerkte ich einen ständigen Milchfluss aus meiner Brust. Die Innenseite meines Büstenhalters war ständig nass. Es hatte eine klebrige Konsistenz und war gelblich-weiß. Muttermilch eben.

Wie das kommt? Ich werde es euch verraten. Lange bin ich jedoch nicht zum Arzt gegangen. Denn hey als Teenager im Alter von 16 Jahren hat man doch ganz andere Dinge im Kopf und der Frauenkörper spinnt doch immer etwas rum, dachte ich mir.

Als ich meiner Mutter davon erzählte, ging es natürlich direkt zum Frauenarzt. Eine Schwangerschaft war ausgeschlossen. Der Test beim Gynäkologen bestätigte dies. Unzählige viele Tests wurden gemacht. Am Ende landete ich in der Röhre. Ein MRT wurde beauftragt und siehe da, ein Tumor hatte sich neben meiner Hirnanhangdrüse eingenistet.

Ein gutartiger Tumor, der Prolaktin schüttet. Vielleicht sagt der ein oder anderen dieses Wort ja etwas. Es handelt sich hierbei um ein Hormon. Ein Hormon, das eigentlich in der Schwangerschaft, sowie in der Stillzeit vom Körper produziert wird. Mein Körper dachte also ich sei schwanger. 

Und solang mein Körper denkt ich sei schwanger, kann ich es real nicht werden. Eine Schockdiagnose.

Damals brach eine Welt zusammen. Natürlich werden sich nun viele denken, dass ich doch erst 16 war. Woher soll ich mit 16 Jahren wissen, ob ich überhaupt jemals Kinder haben möchte. Aber so war es nicht.

Denn wer mich kennt, weiß ganz genau – Azra wollte schon immer heiraten und Kinder sowieso. Wenn es nach meinen Freundinnen geht habe ich sowieso einen völlig falschen Berufszweig gewählt. Eine Freundin sagte immer „Azra du bist geboren, um Mutter zu werden!“. Und mit einem Schlag war es fraglich, ob ich überhaupt jemals Kinder bekommen kann. 

Ich ging also in Therapie. Tabletten, viele Tabletten. Damit der Tumor in etwa „austrocknet“. Operativ konnte der Tumor nicht entfernt werden, denn dafür lag er an der falschen Stelle. Also schluckte ich eine ziemlich lange Weile Tabletten. Jedes halbe Jahr ging es erneut in die Röhre. Der Wachstumsprozess musste genau beobachtet werden. Und nach etwa drei Jahren Therapie, bildete sich der Tumor zurück. 

Heute ist der Tumor zwar noch da, aber er hat sich zu einer Zyste zurückgebildet. Dennoch gehe ich jedes Jahr vorsorglich zum Check.

Eine komische Wende, nicht? Damals zu Beginn meines Mutter-Daseins hätte ich diese Milch gebraucht. Aber ich hatte sie nicht. 

Dennoch, das Stillen hat mir nie gefehlt. Klar, wie soll mir etwas fehlen, das ich nie erleben durfte. Es war eher der Frust. Der Frust, dass es alle anderen konnten, nur ich nicht. Der Frust, dass es alle erwarteten und die, die es nicht aussprachen, denen konnte ich es im Blick lesen. 

Aber eines habe ich erlebt, diese wunderbare Welt als Mutter. Eines ist sicher, es war das intensivste Jahr das ich jemals gelebt habe. Muttersein stellt alles andere in den Schatten. Erst mit dem Muttersein habe ich gelern was wirklich wichtig im Leben ist. 

Mein Mädchen hat mich zu einem neuen Menschen gemacht und damit meine ich nicht nur die Tatsache eine neue Rolle in meinem Leben zu haben. Damit meine ich genau genommen fast alles. 

Du hast in mir eine Stärke geweckt von der ich nie wusste, sie zu besitzen. Danke, dass du mich so vieles gelehrt hast und mich zu deiner Mama gemacht hast. Danke, dass ich deine Mama sein darf, ich möchte nichts anderes mehr im Leben sein. Seit du auf der Welt bist ist mein Leben perfekt. Genauso wie es ist. 

Und nun sitze ich hier und mein kleines Wunder wird ein Jahr alt. Ich kann es eigentlich kaum glauben. Mein Baby, dass ich mir gewünscht habe, von dem ich so lange geträumt habe, wird nun schon zum großen kleinen Mädchen.

 

Alles Gute zu deinem ersten Geburtstag, von Herzen alles erdenklich Gute. Ich liebe Dich, von ganzem Herzen. Dein Papa auch. 

Und euch danke ich für eure Aufmerksamkeit, für die Zeit, die Ihr euch genommen habt.

In Liebe, Azra.

 

Kommentare

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare
  • Jacqueline
    30 Jun 2016 Antworten

    Liebe Azra,
    ich habe deine Zeilen gelesen, alle, bis zum Schluss. Und ich möchte dir gern einen Kommentar hier lassen. Ich möchte dir sagen, du bist nicht allein. Ich habe eine ähnliche Geschichte was das Stillen angeht. Ich bin spät Mama geworden (39), das erste Kind habe ich mit 35 verloren. Als unser absolutes Wunschkind vor zwei Jahren auf die Welt kam, war auch mein Wunsch zu stillen. Leider schaffte ich es nicht, ich hatte keinen Milcheinschuss und mein Körper produzierte erst am Tag 3 nach der Geburt ein klein wenig erste Muttermilch. Bis dahin wäre mein Kind verhungert. Ohne Pre-Nahrung hätten wir es nicht geschafft. Auch ich habe versucht mein vor Hunger schreiendes Kind zu beruhigen. Die Schwestern auf den Stationen haben mir nur wenig geholfen und haben mein schlechtes Gewissen dass ich nicht stillen konnte erhöht und den damit verbundenen Druck ebenfalls. Ja, ich weiß dass es das Beste für mein Kind ist zu stillen. Aber auch Flaschenkinder werden groß und sind gesund und glücklich. Es fragt niemand mehr danach „und wurdest du als Kind gestillt oder hast du die Flasche bekommen?“ Heute kenne ich auch den Grund warum mein Körper es nicht schaffte zu stillen. Ich hatte 2 Wochen nach meiner Entbindung eine Not-OP, Blinddarmdurchbruch. Ich vermute, dass mein Körper mit den Presswehen die Entzündung am Blinddarm in Gang gesetzt hat. Niemand hatte es gemerkt, nicht einmal ich. Ich hatte keine Schmerzen, nichts, nur Fieber, hohes Fieber, immer wiederkehrend. Ich bin dann zur Ärztin gegangen, weil ich mich körperlich nur schlapp fühlte. Sie schickte mich ins Krankenhaus und man vermutete eine Gallenblasenentzündung. Auf dem OP-Tisch sah man das ganze Ausmaß der Tragödie… ich hatte bereits eine vereiterte Bauchfelldecke und meine Organe waren schon angegriffen, ich stand kurz vor Sepsis. Nach 6 Stunden Not-OP wachte ich auf der Intensivstation auf. DAS war der Grund warum ich keine Muttermilch produzieren konnte und aufgrund der OP und der damit einhergehenden Medikation konnte ich gar nicht mehr stillen.
    Im Nachhinein bin ich etwas traurig darüber, dass ich es nicht konnte, aber auch unendlich DANKBAR dass ich noch am Leben bin, mein Kind einen Papa und eine Mama hat. Ich habe genauso eine intensive Zeit beim „Fläschchen geben“ genossen, wie jede andere Mama beim Stillen. Was mir aber fehlt sind die ersten Wochen des Kuschelns, des ruhigen Kennenlernens… Nach der OP brauchte ich einige Wochen bis ich wieder auf den Beinen war und diese Zeit, die fehlt mir. Allerdings hat dies unglaublich dazu beitragen, dass mein Mann (der alles allein mit unserer Tochter gemanagt hat) ein sehr intensives Verhältnis von Beginn an zu ihr aufbauen konnte – ein wenig so wie es sonst nur eine Mama macht. Es hat zu so viel mehr Verständnis bei meinem Mann geführt, der den Hut vor jeder Mama zieht, die ein Neugeborenes zu versorgen hat – erst recht Alleinerziehende 🙂
    Ich wünsche dir alles Liebe!
    Jacqueline

  • Ramona
    6 Jul 2016 Antworten

    Liebe Azra

    Der Beitrag ist ja schon ein paar Wochen alt, schade bin ich erst heute darauf gestossen 🙂

    Ich möchte dir gerne sagen, dass dieser Beitrag einfach toll ist! Ich bewundere deinen Mut mit dem „nicht-stillen“ an die Öffentlichkeit zu gehen, gerade weil das Stillen im Moment fast eine Staatshoheit ist. Und du bist nicht alleine. Wir sind nicht alleine. Es gibt so viele Mütter die sich vielleicht gerne so entscheiden würden aber nicht können.

    Ich habe mich in deinem Beitrag wiedergefunden. Als mein Sohn auf die Welt kam versuchte ich es mit dem Stillen. Leider hat er immer mehr abgenommen, hat nach 2 Stunden „trinken“ immer noch geschrien vor Hunger. Ich war verzweifelt. Da hatte ich aber diese tolle und wundervolle Krankenschwester. Sie hat am 3. Tag bemerkt, dass mein Sohn zwar an der Brust zieht aber nicht trinkt. Sie hat dann kurzerhand die Flasche geholt. Im ersten Moment hatte ich ein mulmiges Gefühl. Ich sollte doch stillen. So ist es von der Natur vorgesehen, es ist das Gesündeste und Beste für mein Kind, es ist kostenlos und es ist schon fast ein Statussymbol. Dieser Druck machte mich fast kaputt.
    Zuhause angekommen wurde es nicht besser. Doch meine liebevolle Hebamme hat mich so unterstützt. Sie merkte dass mir das Stillen nichts sagte, dass ich es nur tun wollte weil es irgendwie von einer Mutter verlangt wird. Und sie hat mich darin bestärkt, meinen eigenen Weg zu gehen. Ich habe nach 4 Wochen abgestillt. Mein Sohn bekommt also seit Geburt praktisch nur Pulvermilch.
    Er ist gesund, war noch nie krank in seinen 7 Lebensmonaten, er ist glücklich, kräftig, gut entwickelt. Aber das Wichtigste, ich bin glücklich. Und entspannt. Die Entscheidung die Flasche zu geben hat unser Verhältnis und auch das Papa-Kind-Verhältnis so gestärkt. Es ist keine Schande, es trennt nicht die innige Bindung zwischen Kind und Mutter, Flaschenkinder sind nicht automatisch krankheitsanfälliger oder unglücklicher. Denn Stillen garantiert nicht ein Glücksgefühl, das muss jeder für sich finden.

    Herzliche Grüsse
    Ramona

Schreibe ein Kommentar

Weitere Blogbeiträge